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Literatur und Kosmopolitismus. Am Beispiel von Ludwig Tiecks Phantasus

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Fakultetet for humaniora, samfunnsvitenskap og lærerutdanning.

Literatur und Kosmopolitismus. Am Beispiel von Ludwig Tiecks Phantasus

Birgit Scherer TYS - 3910

Masteroppgave i tysk litteratur. Våren 2016.

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iii Eigenständigkeitserklärung:

Hiermit bestätige ich, die vorliegende Arbeit eigenständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel als die in dem enthaltenden Literaturverzeichnis benutzt zu haben. Ich versichere, dass ich die vorstehenden Angaben nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe, und dass sie richtig und vollständig sind.

Danksagung:

Ich möchte mich bei meiner Betreuerin Marie-Theres Federhofer für ihre wichtigen Ratschläge, kritischen Bemerkungen und auch ihre Geduld und Unterstützung, die sie mir gewidmet hat, herzlich bedanken.

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Inhalt

1. Einleitung ……….1

1.1. Untersuchungsinteressen und Ziele der Arbeit ………..………..1

1.2. Stand der Forschung zu Tiecks Phantasus ……….4

2. Bemerkungen zum romantischen Literaturverständnis und seinen Zusammenhang mit dem Kosmopolitismus ……….9

2.1. Ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung des Kosmopolitismus ………9

2.2. Die literarische Ausfaltung des Kosmopolitismus ……….12

2.2.1.Die Weltliteratur als Teil des kosmopolitischen Diskurses ………..16

3. Schriftstellerische Praktiken, Erzähltechniken und Erzählkultur. Textualitätsmerkmale der kosmopolitischen Literatur ……….19

3.1. Das Spannungsverhältnis zwischen existentiellen Einsamkeitserfahrungen und dem Freundschaftsideal. Ästhetische Kodierungen im Spannungsfeld einer Nah-Fern- Dialektik ………19

3.2. Die Reise als eine kosmopolitische Praxis: Aufbruch - Begegnung mit dem Fremden - Heimkehr ………...21

3.3. Intertextualität im literarischen Kontext der Frühromantik ………..23

3.4. Übersetzungen als Praktik einer Realisierung von Weltliteratur ……….25

4. … am Beispiel von Ludwig Tiecks Rahmenerzählung und drei Märchen im Phantasus ………..29

4.1. Phantasus, eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen ……….29

4.2. Einleitende Bemerkungen zu den Märchen im Licht des Kosmopolitismus ………32

4.2.1. Der blonde Eckbert ……….34

4.2.2. Der Runenberg ………..39

4.2.3. Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence …………43

4.3. Die Rahmenerzählung ………..49

5. Konklusion ………59

Literaturverzeichnis ………..65

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1 1. Einleitung

1.1 Untersuchungsinteressen und Ziele der Arbeit

Ein idealer Kosmopolit ist durch seine eigene Herkunft verpflichtet und gleichzeitig der Meinung, dass die Welt seine Heimat ist. Die Identität des Kosmopoliten wird nicht nur mit seiner eigenen Nationalität verbunden, sondern fühlt er sich überall zuhause und der Welt und der ganzen Menschheit zugehörig. Er sieht den Menschen als Teil des Großen Ganzen, wo eine individuelle, persönliche Identität mit einer universellen Weltgemeinschaft in Zusammenhang steht. Eine Offenheit und ein Interesse für Anderen und Anderes sind Eigenschaften, die er besitzt, und das, was für ihn als Fremd präsentiert wird, ist eine Möglichkeit, gemeinsam mit anderen, sich selbst entwickeln zu können.

Im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert wurde der Kosmopolitismus „zum politisch, rechtlich, pädagogisch, kulturell, ökonomisch oder moralisch kodierten

Programmbegriff der europäischen Aufklärung“ 1 und das Jahrhundert wurde als „das kosmopolitische Zeitalter par excellence“ beschrieben.2 Das Zusammenleben zwischen Ungleichen ist aber seit aller Zeiten eine Herausforderung gewesen, und im deutschen Diskurs kam es zu einem Konflikt zwischen den Befürwortern des Patriotismus und des Kosmopolitismus. Die gegebenen Umstände von politischer Zerrissenheit in den kleinen, deutschen Staaten komplizierten die Debatte, und das Verhältnis zwischen weltbürgerlicher und patriotisch-nationaler Gesinnung wurde problematisch.3 Die paradoxe Begriffsbildung

“kosmopolitischer Patriotismus“4 hebt eine Koexistenz der verschiedenen Kulturen hervor, wo man es versucht, die Eigenart jeder Nation zu erhalten und gleichzeitig die nationalen Grenzen zu verwischen. Gab es aber Raum für sowohl das Nationalgefühl, als auch das weltbürgerliche Ideal, und ließ sich die Zugehörigkeit zu einem Volk bzw. zu einem Staat mit internationalen Bestrebungen und kulturübergreifenden Orientierungen sich vereinen? Die Kosmopolitismusdebatte ist häufig diskutiert worden und soll deswegen nicht den

wichtigsten Gegenstand meiner vorliegenden Studie sein. Gleichwohl soll die Thematik

1 Albrecht 2005, 31.

2 Thielking 2000, 10.

3 Horstmann 1976, Sp. 1155-1167.

4 Thielking 2000, 38.

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pragmatisch aufgenommen werden, um die kosmopolitische Literatur zu beleuchten. Denn seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bekamen kosmopolitische Anschauungen in Philosophie und Literatur in Europa immer stärkere Beachtung und im Laufe des 18.

Jahrhunderts eskalierte die Akzeptanz im deutschen Sprachraum.5 Deutsche Intellektuelle haben im frühen 19. Jahrhundert sich weniger an den verfassungsrechtlichen und politischen Aspekten kosmopolitischen Denkens interessiert, eher wurde auf die kulturpolitische

Dimension fokussiert.6 Infolge der Literaturwissenschaftlerin Andrea Albrecht lässt Kosmopolitismus sich in narrative Textgattungen gut widerspiegeln:

„Literarische Texte erweisen sich dabei in Bezug auf die Konstruktion kosmopolitischer Konzeptionen als ein ausgezeichneter Ort der Verwandlung kultureller Handlungsschemata, weil sich dort in selbstreflexiver Form Konzepte in der Umsetzung konstruieren, imaginieren, erproben und problematisieren lassen.“7

In der Literatur vollzieht sich der Kosmopolitismus durch die Texten auf den Ebenen der Kommunikation. Anstelle sich anhand politischer Erklärungsmuster oder begriffsanalytisch mit dem Kosmopolitismus zu beschäftigen, kann die Literatur die Gesellschaftsstrukturen durch ihre Geschichten erzählen, und den herrschenden Diskurs in dieser Weise

konterkarieren. Hier liegt eine Möglichkeit, die menschliche Gesellschaft und die Komplexität des menschlichen Seins differenziert darzustellen.8

Im deutschen Diskurs wurde die zeitliche Kosmopolitismusdebatte durch Erzählungen, Romane und dramatische Gattungen projiziert, und später setzte eine

Diskussion um den Begriff “Weltliteratur“ ein - durch Johann Wolfgang von Goethe bekannt - und international wirksam gemacht. Die Befürworter einer Weltliteratur forderten eine transnationale Literaturwahrnehmung, die eine wechselseitige Beeinflussung der nationalen Literaturen voraussetzte. Sie beklagten die mangelnde weltbürgerliche Orientierung und forderten die entsprechende deutsche Nationalliteratur heraus. Goethe fand es zum Beispiel

5 Ebd., 24.

6 Berbig 2016, 269.

7 Albrecht 2005, 60-61.

8 Goßens 2011, 1.

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3

höchst nötig, dass jeder die eigene Nation, wie auch die übrigen kennenlernen sollte, zudem äußert er sich in Über Kunst und Althertum, wo die Weltliteratur als „ein über nationale Grenzen hinweg geführtes Gespräch”9 beschrieben wird, und „deshalb findet ein denkender Literator alle Ursache jede Kleinkrämerey aufzugeben und sich in der großen Welt des Handelns umzugehen“.10

Die Literaturwissenschaft weist nur selten auf die kosmopolitischen Komponenten in den Werken der Romantiker hin. In diesem Argumentationsraum ist der deutsche

Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer Johann Ludwig Tieck (1773-1853) und seinen Phantasus in vielerlei Hinsicht interessant. Tiecks Werk Phantasus ist sehr umfangsreich, beinhaltet viele Gattungen und ist über einen langen Zeitraum entstanden. Seit Tieck die Binnengeschichten schrieb und bis zur Entstehung, veränderten sich die Zeitverhältnisse, wodurch das Werk in eine Übergangsposition gerückt wird. Tieck, „der sich als Übersetzer von Shakespeare und Cervantes einen Namen gemacht hat“,11 und sich in seiner produktiven literarischen Praxis alle Gattungen umfasst, wäre es Minnesang, Volksbücher, Schauspiele oder Märchen, „läßt sich in ein enges Verständnis von „Nationalliteratur“ nicht

hineinpressen“.12 Ja, einerseits weist Phantasus auf nationalromantische Konzepte zurück und ist mit der romantischen Konstellation um 1800 eng verwoben,13 zum Beispiel durch die praktizierte Geselligkeit, die Thematisierung von Sehnsucht und Reiselust und die inhaltliche Kombination von Wunderbarem und psychologisch motiviertem Schrecken, die als

Resümierungen der Romantik und stilbildend für viele romantische Kunstmärchen zu

auffassen sind.14 Andererseits introduziert und erstrebt Tieck aber auch neue Möglichkeiten und Lösungen in seiner vielgestaltigen Verfasserschaft, dadurch v.a. deutlich gemacht durch sein Interesse für andere Verfasser und Zeitgenossen. Man konnte sagen, dass Phantasus zur Entwicklung der nationalen Kultur beiträgt, und gleichzeitig beruht das Werk nicht alleine auf nationalen Traditionen und Werten. Es reicht nicht aus, Tiecks literarische Praxis nur als Nationalliteratur zu definieren und in der Frage nach Merkmalen der kosmopolitischen Literatur ist Tieck deshalb ein sehr interessanter Verfasser.

9 Goethe 1999, 1130.

10 Ebd., 280.

11 https://www.projekte.hu-berlin.de/de/zfgerm/1999-2016_publikationen/bd-9-vorwort 08.05.2015

12 Ebd.

13 Stockinger, Scherer 2011, 131.

14 Kremer 2007, 191.

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4

Meine Untersuchung widmet sich drei Märchen aus der ersten Abteilung: Der blonde Eckbert, Der Runenberg, Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter von Provence, und die Rahmenerzählung selbst, die die Texte im Phantasus einbettet. Eine Charakteristik für kosmopolitische Literatur soll nachgegangen werden, um

nachzuvollziehen, welche Kriterien zugrunde liegen, um diese Texte als kosmopolitisch charakterisieren zu können. In Bezug auf meine Textbeispiele soll die Charakteristik anschließend nachgeprüft werden, um herauszufinden, ob man Phantasus als

kosmopolitische Literatur-, und dadurch das Werk als Beitrag einer Weltliteratur, verstehen könnte, da die Weltliteratur ein wesentlicher Beitrag des kosmopolitischen Diskurses ist.

1.2. Stand der Forschung zu Tiecks Phantasus

Phantasus zählt zu den wichtigsten Werke Ludwig Tiecks. Langer Zeit wurde aber die Sammlung wenig untersucht und gelesen, und sie war in der Forschung eher unbefriedigend dargestellt; aus dem Phantasus wurde häufig zitiert, doch meistens, um eine andere,

vorgetragene Dichtung zu kommentieren.15 Tieck hat nahezu fünfzig Jahre lang die Literatur seiner Zeit geprägt, aber im Vergleich zu den übrigen Romantikern verbleiben Tiecks

Vorgänger bekannter als er.16 In Bezug auf Tieck wurden von dem deutschen Philosoph und Publizist Rudolf Haym und dem deutschen Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf zum ersten Mal verhöhnende Urteile in ihrer Beschreibung benutzt. Schlagworte wie “Spieler, Nachahmer“ und “Mitläufer“ wurden Beispielsweise von Haym verwendet.

Auch Gundolf verspottet Tiecks Schaffen: „Er fing an als Unterhaltungsschriftsteller niedrigen Niveaus …, er hörte auf als Literaturgreis und Unterhaltungsschriftsteller hohen Niveaus“.17 Bis heute ist Tieck in der deutschen Literaturgeschichte unberechtigt eher unbekannt

verblieben, und seine Berühmtheit als Person weitgehend marginalisiert worden. Für die Verfasserschaft und die Tieck-Forschung fehlt es an einem institutionellen Zentrum im

15 Meißner 2007, 11.

16 http://edoc.hu-berlin.de/hostings/athenaeum/documents/athenaeum/2005-15/meissner-thomas- 269/PDF/meissner.pdf 27.04.2016

17 Zybura 1994, 13-14.

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deutschen Sprachraum. Das “Tieck-Jahr 2003“ ging fast unbemerkt vorüber.18 Ludwig Tieck einen respektierten Platz in der Forschung zu geben, ist gleichwohl seit der siebziger Jahren versucht geworden. Mit den Beitragen von v.a. Wulf Segebrecht, Ernst Ribbat, Uwe

Schweikert und Roger Paulin gab es eine Tendenz, wo sie Tieck als Literaturvermittler ins Blickfeld der Forschung rückte, mit dem Versuch, stereotype Beschreibungen von Tieck wie etwa “wankelmütig“ oder “charakterlos" zu korrigieren.19 Später mit Manfred Franks Edition von 1985 ist der Phantasus ausführlich kommentiert worden, was ein gesteigertes Interesse an Tieck auslöste.20 Danach scheinen große Teile der Tieck-Forschung vorangekommen zu sein, und seine Bedeutung ist in der Forschung nachdrücklich bemerkt worden.

Publikationen wie etwa bei Walter Schmitz,21 Achim Hölter22 und Detlef Kremer23 bestreben sich bei Tiecks Phantasus, „… die Komplexität des Werks, auch über die Dichtung hinaus, zu erfassen, und auf dieser Basis ein Bild von Tieck zu gewinnen, das seiner kulturhistorischen Bedeutung gerecht wird“.24

Lange wurden die Texte aus dem Phantasus nur als Einzeltexte behandelt, ohne dabei die Rahmenerzählung miteinzubeziehen,25 und erst seit der Jahrtausendwende kann man eine vielfaltige Tieck-Forschung finden, die die Rahmen im Phantasus häufiger mitgerechnet.

In Thomas Meißners Erinnerte Romantik wird zum Beispiel die werkgeschichtliche Position der Sammlung beleuchtet, und die Traditionszusammenhänge der Rahmen- und

Binnenerzählungen stehen im Mittelpunkt. Seit Manfred Franks Tieck-Edition „wird das Gesamtwerk wie insbesondere die Kommentarebene des Rahmens zunehmend

interpretatorisch ernstgenommen“,26 wie etwa die neueren Tieck-Arbeiten von Kristina Hasenpflug, Ruth Petzold, Thomas Meißner und Ulrich Beck zeigen.27

18 http://edoc.hu-berlin.de/hostings/athenaeum/documents/athenaeum/2005-15/meissner-thomas- 269/PDF/meissner.pdf 25.04.2016.

19 Schmitz 1997, VIII.

20 Meißner 2007, 12.

21 Literaturprogramm und Lebensinszinierung im Kontext seiner Zeit 1997.

22 Der Romantiker als Student. Zur Identität von zwei Tieck-Handschriften. In ders.: Frühe Romantik - frühe Komparatistik. Gesammelte Aufsätze zu Ludwig Tieck 2001.

23 Die Prosa Ludwig Tiecks 2005.

24 Stockinger, Scherer 2011, 682.

25 Meißner 2007, 11.

26 Stockinger, Scherer 2011, 533.

27 Kristina Hasenpflug: Ludwig Tiecks Darstellung der Salongespräche im Phantasus 1997, Ruth Petzoldt:

Albernheit mit Hintersinn 2000, Thomas Meißner: Erinnerte Romantik 2007 und Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick 2004.

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Die Forschung zu Tieck ist umfassend und von einem großen Rückgang in der Tieck- Forschung kann auch im letzten Jahrzehnt kaum die Rede sein, dazu haben neben den bereits genannten Arbeiten die eingehenden Untersuchungen Claudia Stockinger und Stefan Scherer beigetragen.28 Gleichwohl gibt es Themen bei Tiecks Phantasus, die nicht früher bearbeitet sind, u.a. keine eingehenden Forschungsbeiträge, die die Erzählungen im Phantasus mit dem Blick des Kosmopolitismus analysiert. Im deutschsprachigen Kontext zählt der Literaturwissenschaftler Peter Goßens und die Germanistin Sigrid Thielkings Arbeit zu den neueren Untersuchungen zum Thema Kosmopolitismus und Weltliteratur im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Thielking hat sich mit den kosmopolitischen Ideen in der Literatur des 18. Jahrhunderts beschäftigt und war mit den vielen Varianten des kosmopolitischen Denkens einverstanden. Versucht wurde, die Konturen der Weltbürgeridee nachzuzeichnen.

Ìhre Untersuchung des traditionellen Kosmopolitismus mündet in die aktuelle

Globalisierungsdebatte. Selbst prüfend charakterisiert sie die kosmopolitischen Dimensionen in den Bereichen von Literatur, Geschichte und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als differenziert.29 Gleichwohl wird Thielking von Andrea Albrecht, die auch zu den neueren Untersuchungen über Kosmopolitismus und Weltliteratur im gleichen Zeitraum beiträgt, kritisiert. Die Kritik lag darin, dass sie sich fast nur auf kosmopolitische Konzepte des 20. und nicht des 18. Jahrhunderts konzentriert.30 Dabei wird aber gerne übersehen, dass die

Vielstimmigkeit der Kosmopolitismusidee auch schon im 18. Jahrhundert existierte. Genau hier setzt die Monographie von Albrechts Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800 an, deren Ziel es ist, von einem „grundsätzlich

pluralistischen Modell unterschiedlicher Kosmopolitismen auszugehen“.31 Albrechts wichtige Studie durchgeht die Geschichte des Kosmopolitismus im 18. Jahrhundert durch die

Theorien von u.a. Jacques Derrida und Jürgen Habermas. Anhand der Fallstudien ausgewählter Texte gelingt der Durchgang zu einer Rekonstruktion der Definition des Kosmopolitismus. Die erwähnten Texte sind so genannte “Höhenkammliteratur“ und gelten gemeinhin als Glanzpunkte der deutschen Literatur und Philosophie. Ihre Forschung

erweitert die historisch- semantische Diskursanalyse, indem sie sich mit der literarischen

28 Stockinger, Scherer in: Ludwig Tieck. Leben - Werk - Wirkung 2011.

29 Thielking 2000, 9.

30 Albrecht 2005, 14.

31 Ebd., 56.

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7

Ausfaltung des Kosmopolitismus befasst -von ihr als “narrative Dimension von Begriffen“32 benennt. Das heißt, dass sich das Verständnis von Begriffen nicht nur begriffshistorisch erschließt, sondern auch erzählerisch, in Geschichten, umgesetzt werden kann.

Um 1800 ergeben sich infolge Albrecht im deutschsprachigen Kontext

unterschiedliche kosmopolitische Konzeptionen, „… die sich zwar auf gemeinsame Traditionen berufen, zum Teil auch vergleichbare Absichten verfolgen, gleichwohl aber explizit wie implizit unter der gleichen Bezeichnung stark differierende diskursive Funktionen wahrnehmen“.33 Ihr zufolge gab es im 18. Jahrhundert in Deutschland keinen einheitlichen Kosmopolitismusbegriff, sondern unterschiedliche Konzepte des Begriffes, und deswegen spricht sie auch von Kosmopolitismen im Plural, und nicht nur von einer

Kosmopolitismusidee. Durch ihre Beschreibung von den Kosmopolitismen tritt sie einem stereotypen Kosmopolitismusverständnis entgegen, wie es in neueren

literaturwissenschaftlichen und philosophischen Beschäftigungen mit dem 18. Jahrhundert häufig unterstellt wird. Zu Recht warnt sie vor normierenden und homogenisierenden Annahmen, wo die Darstellung des Kosmopolitismus sich auf die eine Weltbürger-Idee beschränkt, wie etwa für das 18. Jahrhundert.34 Eine einfache Rede vom Kosmopolitismus um 1800 ist nach Albrechts Studie nicht möglich, und eine einfache Charakterisierung des Kosmopolitismus mit dem Ziel, das Thema anschaulicher zu machen, lässt sich nicht

durchsetzen. An der Grundlage wird Ulrich Becks Rückgriff auf die weltbürgerlichen Akteure des 18. und 19. Jahrhunderts von Albrecht als „… von vorneherein zum Scheitern verurteilt, nicht nur, weil sich die weltpolitischen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen in den letzten 200 Jahren grundlegend geändert haben, sondern auch, weil schon um 1800 das kosmopolitische Spektrum so kontrovers und vielschichtig ist, dass es sich gegen eine einlinige und normierende Wiederaufnahme sperrt.“35 Ihre Kritik gilt auch der oft

unzureichenden Quellengrundlage für Arbeiten im 18. Jahrhundert. Obwohl das Thema Kosmopolitismus seinerzeit nicht nur in literarischen und philosophischen Texten, sondern auch in der politischen Publizistik diskutiert wurde, hat man diese Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge in der Forschung kaum herangezogen.

32 Ebd., 60.

33 Ebd., 10.

34 Ebd., 5.

35 Ebd., 403.

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Meine Analyse soll seinen Ausgangspunkt in einem pluralistischen, vielfaltigen Modell unterschiedlicher Kosmopolitismen im frühen 19. Jahrhundert nehmen, und ich möchte besonderen Wert auf Andrea Albrechts neue, innovative Forschung und umfassenden Beitrag zur Kosmopolitismusdebatte - dessen Befunde für weitere Forschungen zu

berücksichtigen sind – legen und in meiner eigenen Untersuchung mit einbeziehen. Albrecht hat den Kosmopolitismus gründlich untersucht und durchgearbeitet. Sie setzt sich kritisch mit den Ansätzen der historisch-politischen Semantik des Kosmopolitismus auseinander und untersucht die literarische Umsetzung kosmopolitischer Praktiken. Ihre Arbeit kann

innerhalb der Literaturwissenschaft zum neuesten Stand der Kosmopolitismus-Forschung gezählt werden.

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2. Bemerkungen zum romantischen Literaturverständnis und seinen Zusammenhang mit dem Kosmopolitismus

2.1 Ein kurzer historischer Überblick über die Entwicklung des Kosmopolitismus

Zwischen 1799 und 1829, in der deutschen Literaturgeschichte als “die Epoche der Romantik“ genannt, hat sich ein eigenständiger, romantischer Europa-Diskurs36 herausbildet, worin verschiedene religiöse, politische, ökonomische, kulturelle, klimatische und auch literarische Gegenstände thematisch wurden.37 Versteht man Nationalliteratur und Weltliteratur als zwei gegenseitige Pole, dann befindet sich die Frühromantik in der Mitte der beiden.38 Das romantische Literaturverständnis lässt sich auf den

Kosmopolitismusdiskurs des 19. Jahrhunderts beziehen, und steht in Zusammenhang mit der seinerzeit gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Deutschlands. Eine genaue

Bestimmung der kosmopolitischen Literatur erfordert eine Skizzierung des politischen Kosmopolitismus, da die kosmopolitischen Komplexe Ähnlichkeiten zur Literatur zeigt. Auch Tiecks Verständnis von Kosmopolitismus lässt sich besser konturieren, wenn vorab ein kurzer historischer Überblick über kosmopolitische Positionen gegeben wird. Es scheint reizvoll, kurz an die wichtigsten Strömungen zu erinnern:

Die Idee eines Kosmopolitismus ist alt; ihre Geschichte kann man „bis ins frühe Griechentum zurückverfolgen“, und der Terminus geht etymologisch aus dem griechischen kosmos (deutsch: Weltall) und polis (deutsch: Stadt, Staat) zurück.39 Im 18. Jahrhundert erlebte der Begriff eine Blütezeit, und wurde als „das kosmopolitische Jahrhundert“

bezeichnet.40 Unterschiedliche Konzeptualisierungen haben sich vom Begriff in den verschiedenen Diskurszusammenhängen entwickelt. Die politischen Vorstellungen waren durch Einflüsse von außen geprägt, im Wesentlichen durch die Französische Revolution von 1789 und die darauf folgenden Koalitionskriege gegen Napoleon: Mit der Tradition des

36 Japp 2008, 2.

37 Ebd.

38 Zybura 1994, 20.

39 Horstmann 1976, Sp. 1155-1167.

40 Zum Beispiel von Thielking 2000, 10 und Albrecht 2005, 16.

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aufgeklärten Kosmopolitismus kam es in Frankreich zu einer Politisierung des Kosmopolitismus, die bis zur Französischen Revolution kulminierte.41 Beispielsweise beförderte der französische Schriftsteller, Philosoph und Pädagoge der Aufklärung Jean- Jacques Rousseau eine Politisierung der Debatte, wenn er gegen jeden Bürger opponierte, der sich aufgrund des Kosmopolitismus seine patriotischen bzw. moralischen Pflichte zu entziehen versuchte; vaterlandsfeindliche Tendenzen sollten versucht, niedergeschlagen zu werden.42 Das Weltbürgertum und der Nationalstaat wurden als gegensätzliche,

unvereinbare Komponente angesehen. Mit der französischen Revolution fand eine

revolutionäre und radikale Oppositionshaltung statt, wo die weltbürgerliche Elite sich gegen die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse markierte.43

Die Französische Revolution hat das Verständnis vom Kosmopolitismus auch in Deutschland beeinflusst, und auch hier gab es politische Diskussionen über Weltbürgertum und Nationalstaat. Gleichzeitig sieht man Unterschiede zwischen der französischen und deutschen Diskussionen. In Deutschland gab es keine radikale Opposition gegenüber der herrschenden Ordnung, und so auch keine Loyalität gegenüber einem Staat, denn

gesellschaftliche oder staatliche Interessen waren nicht in gleicher Weise vorhanden, da es noch keinen gesamtdeutschen Staat wie bei Frankreich noch gab.44 Obwohl es in

Deutschland keine revolutionären Ausbrüche in dem Maß wie in Frankreich ausgelöst wurden, ist aber eine gesellschaftliche und politische Umgestaltung nachweisbar. Der Alltag und Teile des literarischen Lebens wurden dadurch eindringlich beeinflusst und die

politischen Hintergründe hatten für die Ästhetik und das Kunstverständnis der damaligen Gesellschaft Folgen gehabt.

1806 wurde Das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst und eine Neuordnung des Reichsgebiets war notwendig. Die preußische Niederlage im

napoleonischen Krieg 1807 und dadurch der Zusammenbruch des preußischen Staates bejahten einen starken Patriotismus.45 Patriotismus und Kosmopolitismus waren genaue Gegensätze. Die Kritiker eines Kosmopolitismus fürchteten, dass man die Eigenart und die

41 Albrecht 2005, 36.

42 Ebd., 35.

43 Ebd., 17.

44 Ebd.

45 Kremer 2007, 17.

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nationale Identität verlieren sollte. Die Bejaher sahen den Kosmopolitismus als einen positiven Beitrag zur deutschen Identität und Kultur. Der Diskurs löste einen Konflikt im Verhältnis zur weltbürgerlichen, bzw. kosmopolitischen, und patriotisch-nationalen

Gesinnung aus; es entstand einem Kosmopolitismus-Patriotismus-Streit.46 Durch Immanuel Kant hat die Kosmopolitismusdebatte ein intellektuelles Profil erhalten. In Kants Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795/96) wird das Ziel, eine Gewährung des Friedens zwischen Staaten, wo der Weltfriede „… durch die zunehmende Kommunikation zwischen den Menschen erreicht werden soll.“47 Der Kosmopolit bekommt die Bedeutung eines Weltbürgers, indem er Menschen als Mitglieder einer Zivilgesellschaft sieht, wo alle relevante Akteure sind.48 Später im 20. Jahrhundert hatten Philosophen wie Derrida und Habermas, die sich der Tradition der kantischen Programmatik anknüpften, wichtige Beiträge zur zeitgenössischen Debatte geleistet. Derrida fragte nach der Herkunft, den gegenwärtigen Modifikationen und der Zukunft des Kosmopolitismus, und interessierte sich für das kosmopolitische Erbe, hauptsächlich für die Ankündigung einer neuen,

kosmopolitischen Internationale des Rechts sowie für eine „Forderung nach einer neuen Aufklärung für das kommende Jahrhundert.“49

Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde die Kosmopolitismusdebatte aggressiver. Die meisten deutschen Kosmopoliten waren über den Verlauf der Französischen Revolution und die Verhältnisse innerhalb und außerhalb Europas beunruhigt. Sie haben den Verlauf der Französischen Revolution verworfen, und standen einem politisch motivierten Kosmopolitismus eher ablehnend gegenüber. In Deutschland kam es zu einer

„Differenzierung und Modifizierung des Kosmopolitismusverständnisses.50 Die Profilierung eines Kosmopolitismus wurde oftmals eingeschränkt und der Kosmopolitismus musste sich deswegen neu formieren. Es resultierte darin, dass man in Deutschland viele verschiedene kosmopolitische Konzepte finden kann.51 Der künstlerisch-ästhetische Bereich wurde von besonderer Bedeutung. Ohne die Bedienung einer deutschen herrschenden Ordnung konnten die deutschen Schriftsteller „unverhältnismäßig früh und ungestört in

46 Albrecht 2005, 13.

47 http://www.goethe.de/ges/phi/prj/ffs/the/a97/de9507770.htm 30.09.2015

48 Ebd.

49 Albrecht 2005, 1.

50 Ebd., 17.

51Ebd., 301-302.

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12

weltbürgerlicher Offenheit die relative Autonomie ihres intellektuellen und literarischen Feldes zur kritischen Reflexion kosmopolitischer Programmatiken nutzen.“52 Das

Kunstverständnis bekam eine entscheidende Rolle bei den politischen Hintergründen und bei dem Prozess des gesellschaftlichen Wandels. Besonders die interkulturelle Literatur hat die Entwicklung des Kosmopolitismus frühzeitig erkannt und begrüßt, und hat in der Weise eine entscheidende Vorbildfunktion bekommen:53 Die Neubestimmung des

Kosmopolitismuskonzepts im deutschen Diskurs lag in dem weltbürgerlich motivierten Gelehrtendiskurs der res publica litteraria. Hier wurden die kosmopolitischen Ansichten in Philosophie und Literatur vornehmlich akzeptiert, und viele deutschen Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts widmeten sich einen freiheitlichen, kosmopolitischen Patriotismus, wo Kosmopolitismus und Patriotismus einander ergänzten.54

2.2. Die literarische Ausfaltung des Kosmopolitismus

„Wir sind, darf ich wohl behaupten, die Kosmopoliten der Europäischen Cultur: wir fragen gar wenig darnach, in welchem Lande zuerst eine neue Wahrheit ans Licht gefördert worden ist; wir werden durch keine Parteilichkeit oder Beschränktheit gemindert, jeden irgendwo gemachten Fortschritt in der Wissenschaft sofort anzuerkennen und zu benutzen.“55

August Wilhelm Schlegel: Abriß von den europäischen Verhältnissen der deutschen Literatur (1825)

Wenn man ein Literaturverständnis der Romantik bekommen möchte, kann man von den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel und Johann Wolfgang von Goethe nicht absehen, da sie sehr wichtige Impulsgeber der deutschsprachigen und europäischen

52 Ebd., 17.

53 Mittermayr 2011, 9. Ins Net:

https://germanistik.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/inst_germanistik/projekte/janke/Diplomarbeiten- PDF/dipl_mittermayr.pdf

54 Thielking 2000, 24.

55 Japp 2008, 1.

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Literatur waren, und auch Tieck in seinem Werk und literarischer Praxis beeinflusst haben.

Theorien und Zitate von ihnen werden deswegen verwendet, um die damalige

Literaturauffassung zu verstehen, und weiter noch um die damalige literarische Ausfaltung des Kosmopolitismus sichtbar zu machen.

Der deutsche Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer, August Wilhelm Schlegel (1767-1845) veröffentlichte seine Darstellung des romantischen Weltbildes in Vorlesungen.

1802 hat er die Berliner Vorlesung über schöne Literatur und Kunst gehalten, und seine Definition des Wesens der Kunst abgebildet. Gefordert wurde einen ästhetischen Wechsel von der geistesgeschichtlichen Debatte, die an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstand - und die auch auf unser gegenwärtiges Kunst - und Ästhetikkonzept von großer Bedeutung wurde. Die Frage drehte sich darum, inwiefern die Antike eine Vorbildfunktion für die zeitgenössische Literatur und Kunst haben sollte. Die Literaturdebatte erhielt den Namen Querelle des Anciens et des Modernes, ausgelöste von Charles Perrault am Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich.56 Waren die antiken, ästhetischen Normvorstellungen mit den künstlerischen Kriterien der Moderne vereinbar? Schlegel war der Meinung, dass alle Dinge in Beziehung zu einander stehen, und dass jeder Teil des Universums das Ganze widerspiegelt,57 und seine ästhetische Theorie sah die Kunst der antiken Vorbilder als keine absolute Größe. Kunst konnte nicht allein auf das klassische aristotelische Mimesis-Konzept beziehen. Eher kann man Schlegels Literaturverständnis als „eine Art sprachhistorische Fortsetzung der Querelle des Anciens et des Modernes ansehen.“58 Seine Kunstauffassung war kosmopolitisch ausgerichtet - was er selbst auch in Geschichte der romantischen Literatur deklariert - in der Weise, dass er sich Erforschung, Übersetzung und Verbreitung außereuropäischer Literaturen gewidmet hat.59 Durch seine Vereinigung der verschiedenen Literaturen entsteht auch die Idee eines gemeinsamen dichterischen Schaffens, die die ganze Welt als Einheit hervorbringt. A. W. Schlegel sah es als eine “Deutschere Gesinnung“,

56 In: Parallèle des Anciens et des Modernes (1688–1697) dargestellt. Am Ende des 18. Jahrhunderts kann man in der deutschen Ästhetiktheorie ein neues Bewusstsein in dem Verhältnis zwischen antiker und moderner Dichtung finden, beispielsweise durch Friedrich Schillers Schriften Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) und Friedrich Schlegels Schriften Über das Studium der griechischen Poesie, (1795/97). Böhm 2013, 33.

57 Bär 1999, 128.

58 Albrecht 2005, 307.

59 Ebd.

(20)

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sich nicht dafür zu interessieren, ob etwas Deutsch oder ausländisch-, sondern eher ob es echt und groß sei.60

Die Sprache und die Kunst standen in der Romantik mit einander in enger Verbindung, folglich fasste Schlegel die Sprachfähigkeit und das Dichtungsvermögen als Wesensgleich auf.61 “Poetisch“ ist bei ihm sehr allgemein verstanden und sowohl die Sprache, als auch die Dichtung waren beide Poesie.62 Schlegels Sprachauffassung war von einer Mittelstellung geprägt, wo die Sprache und die Kunst in einem gleichwertigen, absoluten und spannungsreichen Komplementverhältnis zu einander standen.63 Damit ist der transzendentale Idealismus in der Kunstphilosophie auf die Sprachtheorie überträgt,64 wo die menschliche Beschäftigung mit dem Weltganzen durch die Poesie, und folglich auch die Sprache, projiziert wird.65

Auch sein Bruder, der Schriftsteller, Literatur - und Kunstkritiker Friedrich Schlegel (1772-1829), forderte im Gespräch über die Poesie - wie etwa das einleitende Zitat

unterstreicht - eine Kunst, die als Teil ein zusammenhängendes Ganzes aufgefasst werden sollte. Der Künstler sollte immer streben, „seine Poesie ewig zu erweitern, und sie der höchsten zu nähern die überhaupt auf der Erde möglich ist, dadurch, dass er seinen Teil an das große Ganze auf die bestimmteste Weise anzuschließen strebt.“66 Die Literatur der Romantik war eine dynamische, ins Unendliche fortschreibende Dichtung, die nie vollendet sein konnte, und wo die epischen, dramatischen und lyrischen Künste bis zur entstandenen progressiven Universalpoesie steigerten.67 Die Kunst „… umfaßt alles, was nur poetisch ist

…“68 und beruht auf den Grundgedanken, dass sprachliche Äußerungen aller Art poetisch sein sollten.69 So konnte der Charakter der Kunst immer vergrößert werden, was die Kunst mit einer höheren Einheit verbindet. Sie „kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden.“70 Dieser Gedanke ließ sich mit der Idee

60 Schlegel 2007, 16.

61 Bär 1999, 104.

62 Ebd., 139.

63 Ebd., 103.

64 Ebd., 104.

65 Ebd., 141.

66 Schlegel 1967, 286.

67 Ebd., 182.

68 Ebd.

69 Bär 1999, 1.

70 Schlegel 1967, 182.

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des Kosmopolitismus vereinen: Die Kunst sollte sich nicht nur an ein nationales Interesse-, sondern auch an die Ganzheit anknüpfen:

„Die europäische Literatur bildet ein zusammenhängendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird.“

Friedrich Schlegel: Geschichte der europäischen Literatur. 1803/04

Die Funktion der Kunst war für den Romantiker kein individuelles Schaffen, sondern ging es eher um einen universalen, kollektiven Versuch, alles Poetische als gemeinsamen Ausdruck in einer Art “semantischer Gemeinschaft“71 zu erfassen. Romantische literarische Netzwerke und Bewegungen knüpften sich durch ein ästhetisches Schaffen aneinander, und zwar durch ihre Dichtungen, Übersetzungen, Vorlesungen und auch Zeitschriften.72 Die Vorstellungen von - und Praktik einer gemeinschaftlichen ästhetischen Produktion zielte nach der

Symphilosophie bzw. Sympoesie, und „dienten als programmatischer Leitfaden für die

sporadische Zusammenarbeit einiger Schriftsteller und Philosophen Ende der 1790er Jahre in Jena.“73 Friedrich Schlegel erzählte in Athenäums-Fragment 125 von einem Beginn einer ganz neuen Epoche der Wissenschaften und Künste, „wenn die Symphilosophie und die Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten“.74 Schlegel wollte alle getrennten Gattungen der Poesie durch eine universale Textform vereinigen,75 was zu einer umfassenden „Vermischung der Formen, Gattungen und Stile“ führte.76 Im Gespräch über die Poesie äußerte er: „Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und andern Formen.“77 Er bewegte sich von den mimetischen

Kunstauffassungen weg, indem er mit den Genres und den Gattungskonventionen spielte.

Romantische Texte ignorierten häufig die etablierten Diskursgrenzen, das heißt, dass auch

71 http://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/16985/ssoar-1997-goebel-sympoesie_- _zur_funktion_der.pdf?sequence=1 30.04.2016

72 http://www.slawistik.hu-berlin.de/de/fachgebiete/ungarlit/publ/BBH/bbh_alt/bbh14_orosz 13.04.2016

73 Kremer 2007, 28.

74 Schlegel 1967, 185.

75 Ebd., 182.

76 Kremer 2007, 97.

77 Schlegel 1967, 336.

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die Grenzen zwischen den epischen, dramatischen und lyrischen Künsten verwischt wurden - und dass eine Mischung des heterogenen Textmaterials eher gewöhnlich wurde.

Formtheoretische Versuche kann man deswegen schwierig nachvollziehen. Auch im Phantasus spielt Tieck mit Genres und Gattungen. Deswegen wurden zum Beispiel die von Tieck verwendeten Begriffe “Natur-Märchen“, “Allegorie“ und “Märchen-Novelle“ der Ausgangspunkt einer vielstimmigen und häufig diskutierten Forschungsdiskussion.78

2.2.1. Die Weltliteratur als Teil des kosmopolitischen Diskurses.

Der Terminus “Weltliteratur“ setzte sich erst in den 20er Jahren des 19. Jahrhundert durch, obwohl der Gedanke einer Weltliteratur seit langer Zeit in der Luft lag.79 August Ludwig Schlözer hat den Begriff erstmals verwendet,80 aber er wurde durch Goethe und durch seine Zusammenführung verschiedener Beiträge in einem neuen fortschrittlichen europäischen Denken bekannt gemacht. Einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess wurde von Goethe einen Namen gegeben, der ihn jahrelang beschäftigte.81 Sein Entwurf einer Weltliteratur wurde in Über Kunst und Altertum besonders in den Heften VI 1 und 2 präsentiert. Durch Goethes Auffassung einer Weltliteratur wurde die traditionelle Literatur erweitert, indem versucht wurde, die Nationalliteratur durch eine “allgemeinen

Weltliteratur“82 zu ersetzen. Für ihn handelte Weltliteratur nicht um einen Literaturkanon der verschiedenen Nationalliteraturen.83 Goethe vertrat ein prozessorientiertes Verständnis von Weltliteratur, die nie abgeschlossen wird, sondern immer wieder zu initiieren ist, und der sich den Austausch zwischen den Nationalliteraturen widmet, so von der

Literaturwissenschaftlerin Anne Bohnenkamp kommentiert: „“Weltliteratur“ im Sinne Goethes meint internationale und interkulturelle Kommunikation.“84 Für Goethe war eine wechselseitige Beeinflussung und ein gegenseitiges Kennenlernen und Tolerieren der

78 Gille 1993, 611.

79 zum Beispiel in A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, wo man von

“universeller Poesie“ hören darf, und von “Weltliteratur“ die Rede sein könnte. Goethe 1999, 938.

80 Goßens 2011, 83-85.

81 Ebd., 30.

82 Goethe 1999, 356.

83 http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/birus_weltliteratur.pdf 15.04.2016

84 Goethe 1999, 938-939.

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Kulturen und ihrer Nationalliteraturen eine wichtige Voraussetzung für seine Auffassung einer Weltliteratur. Gefordert wurde eine Literatur, die verschiedenen innovativen

Kulturnationen miteinander verbinden. Es wurde versucht, die Grenzen des Nationalen zu überwinden, aber ohne dabei die eigenartige Kultur zu verlieren oder das Besondere jeder Nation zu unterdrücken: Durch Goethes Weltliteratur wird betont, dass die Nationen nicht übereindenken, sondern eher nur einander gewahr werden sollen,85 damit man eigene Erfahrungen wechselseitig austauschen können. Es gab einen Perspektivwechsel:

Weltliteratur, im Gegensatz zur Nationalliteratur, setzte eine wechselseitige Beeinflussung der nationalen Literaturen voraus. Infolge Peter Goßens, der sich mit Weltliteratur und Modellen transnationaler Literaturwahrnehmung im 19. Jahrhundert beschäftigt hat, war die Etablierung eines nationalen Kollektivsubjekts „kein rein nationaler Diskurs, sondern immer von einer Fundierung im transnationalen Kontext begleitet“.86 Die Rolle jeder Nation wurde größeren kulturellen und kosmopolitischen Zielen untergeordnet, wo die Weltliteratur als ein Teil der universellen Vorstellungen des Kosmopolitismus zu verstehen ist. Weltliteratur besitzt den Willen zur Kommunikation mit anderen Kulturen und ihrer Literatur mit dem Ziel eines interkulturellen Lernens. Sie ist eine Praxis für die Forderung eines Kosmopolitismus.

85 http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/birus_weltliteratur.pdf 28.04.2016

86 Goßens 2011, 129.

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3. Schriftstellerische Praktiken, Erzähltechniken und Erzählkultur. Textualitätsmerkmale der kosmopolitischen Literatur

Um zu herausfinden, inwieweit Tiecks Phantasus als Beitrag der kosmopolitischen Literatur angesehen werden kann, ist eine präzise Bestimmung von expliziten

Textualitätsmerkmalen dessen erforderlich. Welche Kriterien müssen erfüllt werden, um sich als kosmopolitische Literatur beschreiben zu lassen? Dies möchte ich in einem ersten Schritt herausarbeiten und Kennzeichen einer kosmopolitischen Literatur benennen. Neben den bereits eingangs genannten Arbeiten stütze ich mich dabei insbesondere auf die Studie von Andreas Mittermayr Kosmopolitische und kosmopolitisch-engagierte Literatur am Beispiel Ilja Trojanows. Ein zentraler Gesichtspunkt seines Beitragens ist die Frage, was

kosmopolitische Literatur ausmacht und welche Merkmale sie kennzeichnet, v.a. das

Verhältnis von “Eigenem“ und “Fremden“ und die folgende Wahrnehmung von Grenzen und Räumen und auch die Reflexivität innerhalb der Texte. Während aber Mittermayr dieses Verhältnis am Beispiel von Gegenwartsliteratur untersucht, wird dann in einem weiteren Schritt der Versuch unternommen, einige seine Perspektive auf frühromantische

Erzählungen Tiecks zu übertragen und auch zu erweitern.

3.1. Das Spannungsverhältnis zwischen existentiellen Einsamkeitserfahrungen und dem Freundschaftsideal. Ästhetische Kodierungen im Spannungsfeld einer Nah-Fern- Dialektik

In der Einleitung ist gesagt worden, dass ein idealer Kosmopolit die Welt als seine Heimat sieht und dass seine Identität sich mit der ganzen Menschheit verbindet. Das heißt, dass er als Kosmopolit gilt, sich in verschiedenen Gesellschaften gut zurecht findet und fremde Kulturen schätzt, dass er sich leicht in der Welt orientieren kann und sich hier einzurichten versteht und vorteilhaft mehrere Sprachen spricht, um die Welt besser kennenzulernen.87 Ein Kosmopolit sucht Kommunikation mit anderen Menschen, und

87 Mittermayr 2011, 3.

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möchte eigene Erfahrungen wechselseitig austauschen. Er sucht ein gegenseitiges Kennenlernen und sieht das Fremdartige als eine notwendige Erfahrung, ja als eine

Bedingung für das soziale Verhalten mit anderen. Gleichzeitig hantiert er Konflikte durch ein Gleichgewicht zwischen Anpassung und distanzierte Beobachtung. Als einer der

Schlüsselkonzepte des Kosmopolitismus stehen die Verhältnisse und die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Folglich bezieht sich Goethes Weltliteratur sowohl auf das

“Kennenlernen des Fremden“ und “die Spiegelung des Eigenen im Fremden“.88 Jacques Derrida sah “die Frage nach dem Fremden“ als “dringend notwendig,“89 und auch Friedrich Schlegel nimmt dazu Stellung in dem Gespräch über Poesie: „Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute

Vollendung ist nur im Tode.“90 Goethe, Schlegel und Derrida sind nur einige von vielen, die sich über dieses Thema äußerten und zahlreiche interdisziplinäre Studien haben sich Fremdheitskonzepte gewidmet.91 Sie sollen in dem Maß in meinem Studium nicht mit einbezogen werden, aber Überlegungen zum Fremden sollen trotzdem untersucht werden, dann aber nur, um meine Suche nach den Textualitätsmerkmalen und der erzähltechnischen Verwirklichung einer kosmopolitischen Literatur zu beleuchten.

Das Engagement für alles Fremde ist ein Bestandteil des frühromantischen

Universalismus: „einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik."92 Es liegt ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen, bzw. das, was uns nähe steht, und das Fremde, das, was uns fern ist. Die zwei Erfahrungsweisen sind bedeutsam bei dem Sachverhalt, wie man sich mit dem Fremden umgeht. Die gegenseitige Korrektur und die neuen Erfahrungen der fremden Perspektive hat ein direkter Einfluss auf die Einsamkeits- bzw. Fremderfahrungen, die erlebt werden können.

Damit wird der Wille zur Einbeziehung des Anderen von Bedeutung. Ulrich Scheck stellt in seiner Untersuchung von Tiecks Phantasus fest, dass die Erfahrung des Fremden eine

88 Goethe 1999, 956.

89 Derrida 2001, 13.

90 Schlegel 2014, 153.

91 Mittermayr 2011, 22.

92 Gille 1993, 612.

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notwendige Bedingung für die Entfaltung sozialer Beziehungsmuster ist.93 Die Bejahung einer offenen Haltung gegenüber das Fremde und der Versuch, das Fremde mit Neugierde zu überwinden konnte eine Bedeutung für die Charakterentwicklung des Helden haben.

Wenn dieser Versuch scheitern sollte, „läuft eine Gefahr, ein stereotypes Bild der

Fremdkultur zu zeichnen. … Einzig effektive „Widerstandsstrategie“ ist das selbstreflexive

„kritische Bewusstsein.“94 Die bewusste Reflexion manövriert die Selbsterfahrung kultureller Fremde.

Indem man die unentdeckte, fremde Welt untersucht, verbinden die eigenen Erfahrungen und das Kennenlernen der Anderen bzw. ihre zwischenmenschlichen

Beziehungen sich mit dem menschlichen Verhältnis zum Raum. Die praktische Tätigkeit der Reise, wo man sich räumlich bewegt, „… zählt zu einer der ältesten Erfahrungen der Menschheit.“95 Es geht also nicht nur um den physikalischen-, sondern auch den sozialen, emotionalen Raum. Die Bedeutung des Reisens, die „der Sehnsucht nach der Ferne nachgibt“96 ob es eine physische, eine emotionale Reise oder beides ist, kann man nicht abschweifen. Jeder der Werke meiner Studie zu Tieck stellen die Reise als Mittelpunkt des Erzählens.

3.2. Die Reise als eine kosmopolitische Praxis: Aufbruch – Begegnung mit dem Fremden – Heimkehr

Seit dem 18. Jahrhundert haben sich die gesellschaftlichen und politischen Strukturen verändert. Die Grenzen zwischen Völkern und ihren Kulturen haben sich hauptsächlich aufgrund der neuen Formen von Mobilität und globalem Austauch, v.a. durch

Reiseerfahrungen und Fremdsprachenerkenntnisse, verwischt. Diese verwischten Grenzen und das damit verbundene häufigere Reisen schlagen sich in der literarischen Reise nieder.

Die Reisestruktur an der Epochenschwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert trennt sich aber von der spätaufklärerischen und klassischen Bildungsreise deutlich ab. Die Funktion der

93 Iwasaki 1990, 391.

94 Mittermayr 2011, 16.

95 http://is.muni.cz/th/329495/ff_m/DP_cast.4.txt 04.04.2016

96 Spateneder 2010, 14.

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frühromantische Reise erschließt eine „neue weltanschauliche und ästhetische

Dimensionen“, wo die Reise als literarisches Phänomen eine Sonderstellung einnimmt.97 Man reist nicht, um ein Ziel zu erreichen, sondern um des Reisens willens als solche. Da die Bildungsreise sich als lineare, zielgerichtet und nützlich beschrieben lässt, sucht die Reise in der Romantik neue Wege und vollzieht sich eher als ein innerseelisches Erlebnis.98 So werden die Persönlichkeiten der Figuren und ihre menschlichen Eigenschaften und

Emotionen von Bedeutung. Das frühromantische Reisen ist eine Begegnung des Ichs auf die Welt, wo die Welt- und Selbsterfahrung im Mittelpunkt gestellt werden.99 Die Dualität von Ich und Welt, die sich hier zeigen lässt, ist von besonderer Relevanz in der Frage, ob die Texte als kosmopolitisch bezeichnet werden können. Sie hat das Potenzial, das Verhältnis von Ich und die Welt als eine Einheit darzustellen, bedingt dadurch, dass der Reisende das Fremde offen und neugierig wahrnimmt.

Die Dissertation von Jana Spateneder Die Heimkehr des Don Quijote in die deutsche Romantik gliedert die literarische Reise in drei Teile ein: Der Aufbruch, die Begegnung mit dem Fremden und die Heimkehr. Mit dem Aufbruch verlässt der Reisende die gewöhnte Umgebung und sucht eine neue, fremde Gegend. Die alte Konstellation von Ich und Welt soll neu definiert werden. Die Begegnung mit dem Fremden dreht sich um jede Erlebnisse der Reisende. Die Erfahrung des Aufeinandertreffens von Eigenem und Fremdem wird auf das Weltverständnis des Protagonisten projiziert. Hier werden „die Grenzen der alten Welt …

im Reisen wie im Denken überschritten.“100 Die Heimkehr ist die Zielrichtung der Reise im weiteren Sinne; gemeint ist auch die innere Heimkehr, „also ein Zu-sich-Kommen des

Individuums,“101 wo Veränderungen im Verhältnis von Ich und Welt eintreten können.102 Die Reise hat in jeder meiner Textbeispiele eine wichtige Rolle. Sie wird durch die

Rahmenerzählung introduziert, und in den Binnengeschichten dichterisch umgesetzt und ich möchte diesen Dreischnitt verwenden, um das Reise-Thema in den Märchen des Phantasus zu beleuchten.

97 Ebd., 14-15.

98 Ebd.

99 Ebd., 12.

100 Ebd., 18-19.

101 Ebd.

102 Ebd.

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3.3. Intertextualität im literarischen Kontext der Frühromantik

Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert Intertextualität als „der Bezug zwischen einem Text und anderen Texten“,103 und der Begriff ist in der

Literaturwissenschaft nicht fremd. Es wurde ein Schlüsselkonzept der modernen Ästhetik und seit Ende des 20. Jahrhundert hat die interpretatorische Einsetzung der Intertextualität in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen sehr zugenommen.104 Der Terminus wurde von der bulgarisch-französischen Psychoanalytikerin und Kultur- und

Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva sowie den sowjetischen Literaturwissenschaftler Michail Michailowitsch Bachtin geprägt.105 Danach bekommt der Begriff verschiedene autonome Definitionen. Die weit umfassende Bezeichnung Kristevas, wo der Text nicht nur geschriebene Texte, sondern kulturelle Phänomene überhaupt mit einbezieht, wurde zum Beispiel später von einer der wichtigsten französischen Literaturtheoretiker, Gérard Genette, umgearbeitet, konkretisiert und kategorisiert. Er spricht anstelle von einer Transtextualität, die von ihm in fünf Typen eingeteilt wird und wo nur die erste sich auf die Intertextualität bezieht.106 Die anderen vier Typen (die Paratextualität, die Metatextualität, die

Hypertextualität und die Architextualität) sollen für meine Studie nicht mit einbeziehend werden. Im Folgenden möchte ich mich mit Genettes Definition der Intertextualität befassen und herausarbeiten, in wie weit intertextuelle Strukturen einen literarischen

Kosmopolitismus konstituieren. Meine verwendete Definition des Begriffes beruht nicht allein auf der von Bachtin und später von Kristeva geprägten poststrukturalistischen

Konzeption, wo jeder Text in all seinen Elementen intertextuell zu verstehen ist. Stattdessen möchte ich Genettes Hinweis auf Intertextualität benutzen. Hier geht es um die Präsenz eines Textes in einem anderen Text, die beispielsweise in Form eines Zitats oder anderen Aussagen und Anspielungen erschienen könnten. Fokus bekommen die Wechselbeziehungen bzw. - mit Bachtin - der Dialog zwischen den Texten. Genau dieser Punkt wird in meiner Studie von besonderer Bedeutung. Wesentlich ist genau der Besitz eines „grundsätzlich

103Fricke 2000, 175.

104 Petzoldt 2000, 28.

105 Kristeva 1969: Sèmèiôtikè-Recherches pour une sèmanalyse, Paris, Seuil und Bachtin 1979: Die Ästhetik des Wortes.Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.

106 Genette 1993, 9-18.

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dialogischen Charakters“,107 den wir sowohl bei der Intertextualitet, wie auch bei dem Kosmopolitismus finden können. Kommunikation ist eine grundlegende Eigenschaft für kulturelle Beziehungen, das heißt, die Intertextualität und die kosmopolitische Literatur stehen durch ihre dialogische Eigenschaften und dadurch auch durch eine konzeptuelle Offenheit mit einander in Verbindung. Sie unterordnen sich keinen genauen Zweck, außer durch die Kommunikation mit anderen den eigenen Horizont zu expandieren. Es geht um eine Vielstimmigkeit, die neue Welten und Möglichkeiten entdecken zu können.

Wie setzt dann Tiecks Phantasus sich mit anderen zeitgenössischen Autoren und anderen Werken auseinander? Zudem ist Tieck in vielerlei Hinsicht interessant. Wir wissen, dass Tieck sich zum Beispiel für Shakespeare, den Orientalismus und die spanische Literatur interessierte, und er zeigt eine offene Haltung zu verschiedenen Literaturen und Kulturen, eine Eigenschaft, die zu einem kosmopolitischen Denken beitragen könnte. Die wiederholte Nennung von Autorennamen und Werke zeigt sein Interesse für andere. Im Phantasus- Rahmen werden zum Beispiel Friedrich Schlegel108, der englische Dramatiker, Lyriker und Schauspieler William Shakespeare (1564-1616)109, der spanische Dichter Miguel de Cervantes Saavedra (1547 bis 1616)110 und der italienische Schriftsteller und Dichter Giovanni Boccaccio (1313-1375) benennt,111 - um nur einige von vielen hervorzuheben.

Andere Werke werden im Phantasus auch hervorgehoben, zum Beispiel die Referierung zur Vorschule der Ästhetik von Jean Paul112 und Wolfram von Eschenbachs berühmteste

Versepos Parzival.113 - Implizite intertextuelle Markierungen, beispielsweise die

Nachahmung des Stils am Beispiel von Boccaccio, werden dann alleine unter Kapitel 4.3 angezogen. Auch Tiecks Übersetzungen sind ein gutes Beispiel für die Aneignung fremder Literatur und Kultur. Die Übersetzungen werden im nächsten Kapitel separat dargestellt.

Ruth Petzold hebt die “ständig präsenten intertextuellen Signale“114 im Phantasus vor. Die Phantasus-Sammlung ist als ein kollektiven Ausdruck bzw. eine Zusammenarbeit zu verstehen, da die Binnenerzählungen von den sieben Freunden durch die Rahmenerzählung

107 Petzoldt 2000, 29.

108 Tieck 1985, 18.

109 Ebd., 89.

110 Ebd., 96.

111 Ebd., 91.

112 Ebd., 87.

113 Ebd., 22.

114 Petzoldt 2000, 14.

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erzählt werden. Durch die geselligen Gespräche der Protagonisten stellt sich ein Dialog zwischen Autor und Leser, und auch Leser und Text. Die Freunde diskutieren häufig Themen, die als intertextuelle Signale definiert werden könnten, zum Beispiel das Thema von

Gattungen und Genres. Schlegels literaturphilosophische Leitideen über Symphilosophie und Sympoesie um 1800 werden im Phantasus literarisch umgesetzt: In einem Brief an den Verleger Georg Joachim Goeschen vom 16.06.1800 schlug Tieck vor, eine Sammlung verschiedener Märchen und Novellen, die ein Ganzes bilden sollten.115 Er meinte, dass die alten Geschichten und romantischen Dichtungen sich dadurch gegenseitig heben würden.116 Der Protagonisten Friedrich spricht von einer Art der Poesie, wo versucht wird,

Kompositionen zugleich lyrisch, episch und dramatisch darzustellen.117 Phantasus ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Vermischung der Formen und Gattungen nicht nur

innerhalb des Großwerkes selbst, sondern auch innerhalb jeder der Binnenerzählungen, wo Gattungsformen sich häufig vermischen. Mit Recht nennt Petzoldt die fiktive

Rahmenerzählung einen „Schlüssel und Metatext für die intertextuellen Referenzen“.118

3.4. Übersetzungen als Praktik einer Realisierung von Weltliteratur

Ausländische Literatur bekam zur Zeit Tiecks immer großer Bedeutung und Aufmerksamkeit, und dadurch wurden auch die Übersetzungen sehr wichtig. Die

Fürsprecher einer Weltliteratur sahen sie „als eine der Praktiken, durch die sich Weltliteratur realisieren lässt,“119 denn zu übersetzen heißt auch eine Auseinandersetzung mit fremden Kulturen. Zentrale Gedanken in Goethes allgemeine Weltliteratur waren v.a. die positiven Aspekte des wechselseitigen interkulturellen Austausches. Im letzten Heft in Ueber Kunst und Alterthum schildert Goethe die Wichtigkeit des Übersetzens so:

„Und so ist jeder Uebersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein

115 Tieck 1985, 1148.

116 Stockinger, Scherer 2011, 534.

117 Tieck 1985, 302-303.

118 Petzoldt 2000, 95.

119 Berbig 2016, 264.

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geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Uebersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr“.120

Der Gewinn beim Übersetzen erreichen, infolge Goethe, nicht nur die Kulturen, in die übersetzt wird, sondern durch das Übersetzen selbst ermöglicht die Chance, sich selber besser kennen zu lernen. Die neuen Erfahrungen bei allem Fremden können zu einer veränderten Wahrnehmung des Eigenen führen.121 Das heißt, für die Deutschen stand das Übersetzen in Verbindung mit einem Nationalbewusstsein und einer Identität. Er fand die deutsche Sprache für das Übersetzen besonders geeignet, v.a. auf Grund der deutschen Mentalität und ihrer Übersetzungsleistungen und Fähigkeit, das Fremde zu vermitteln. Der Deutsche konnte und sollte in der Bildung einer Weltliteratur am meisten wirken.122 Goethe ansieht die Übersetzungsliteratur als „der wesentlichste Bestand einer allgemeinen

Weltliteratur.“123 In der Frühromantik heißt Kenntnis fremder Sprachen zugleich eine Bekanntschaft mit fremden Weltansichten, und die Sprachreflexion von A. W. Schlegel und seine Arbeit mit der kosmopolitischen Literatur, auch durch eigene Übersetzungsbeiträge, die in intensivem Austausch mit seinem Bruder dargestellt wurden, basierte sich auf die Idee eines “intellektuellen Weltbürgertums“, womit gemeint ist, dass sie Kenntnis zu fremden Sprachen, Denkweisen und Weltansichten besaßen.124 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der romantischen Literatur auszeichnet sich ein europäischen Patriotismus “durch die Verwandtschaft der Sprachen“.125 Genau wie Goethe sah A.W. Schlegel die deutsche Sprache für das Übersetzen als ausgezeichnet, auch weil sie mit dem Griechischen und Lateinischen verbrüdert - und mit der nordischen Sprache verwandt war.126 Die Deutschen werden als treue Übersetzer beschrieben127 und sollten die hauptschreibenden Mächte Europas sein.128

120 Goethe 1999, 434.

121 Ebd., 955.

122 Goethe 1999, 950.

123 Zybura 1994, 18-19.

124 Bär 1999, 1.

125 Albrecht 2004, 307-308.

126 Schlegel 2007, 20.

127 Ebd., 23.

128 Ebd., 198.

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Tieck kann man nicht nur als Schriftsteller auffassen, er besaß auch Tätigkeiten als Übersetzer und Herausgeber. Tiecks Einführung zu Cervantes El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha entstand schon während seiner Berliner Schulzeit129 und 1792 fängt Tieck an Spanisch zu lernen.130 Schon 1798 begann er seine erste große Übersetzung ins Deutsche, Leben und Thaten des schafsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha (1799- 1801).131 Tieck hat sich auch beispielsweise für englische, italienische und schwedische Literatur interessiert, aber v.a. war es seine langjährige Interesse für William Shakespeare, die ihn als Übersetzer umfassend beschäftigte. Genauer gesagt war diese Studie die einzige kontinuierlich unternommene Arbeit seines Lebens,132 mit der er sich fast manisch intensiv mit befasste. Als 21 jähriger fing er an, sein Drama Der Sturm bzw. The Tempest zu

übersetzen. Später versuchte er wieder das Werk ins Deutsche zu übersetzen. Es blieb jedoch Fragment, genau wie seine umfassende Studie, Das Buch über Shakespeare.133 Tiecks Bemühung, Shakespeare ins Deutsche zu übersetzen, war eine Fortsetzung von A. W.

Schlegels seit 1793 erst begonnene Unternehmung dieser Aufgabe. 1825 setzte Tiecks Tochter Dorothea und Graf Wolf von Baudissin diese Arbeit unter der Redaktion von Ludwig Tieck fort.134 Die Übersetzung von Shakespeare ins Deutsche scheint ihm als eine

unabschließbare Aufgabe zu sein, was ganz im Sinne der romantischen Auffassung eine immer im Werden, nie vollendet entstandene Universalpoesie der Romantik in

Zusammenhang steht.

Wie sollte ein Verfasser übersetzen? Das fragmentierte Resultat von Tiecks Versuche des Übersetzens macht die Frage relevant. Entweder konnte man den Originaltext so treu wie möglich folgen, oder ihn „frei “nachzudichten“ und für ein zeitgenössisches Publikum eingängig zu gestalten.“135 Die Problemstellung wird auch in der Rahmenerzählung aufgenommen:

„Wenn es aber gar nicht erlaubt sein sollte, … alte, bekannte Geschichten nach Gutdünken und Laune abzuändern, und sie unserm Geschmack zuzubereiten, so würden wir ohne

129 Zybura 1994, 36.

130 Ebd.

131 Stockinger, Scherer 2011, 690.

132 Tieck 1985, 1191. (Kommentar des Herausgebers).

133 Stockinger, Scherer 2011, 379.

134 http://complit.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/abt_complit/VO%C3%BCb06.pdf 29.04.2016

135 Stockinger, Scherer 2011, 377.

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